Deutschlands Bauindustrie steckt in einem Dilemma: Während jährlich Millionen Tonnen an Bauabfällen entstehen, bleibt das Potenzial für echte Wiederverwertung weitgehend ungenutzt. Der Blick in die Schweiz offenbart ein konträres Bild – eines, das nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich überzeugt. Warum also gelingt dort, was hierzulande kaum möglich scheint? Und woran krankt die deutsche Baustoffkreislaufwirtschaft wirklich?
Lineares Bauen am Limit – die Rohstofffrage wird zur Systemfrage
Das traditionelle Bauwesen folgt bis heute einem linearen Prinzip: Rohstoffe werden abgebaut, verarbeitet, verbaut – und am Ende entsorgt. Dieses Modell hat Jahrzehnte lang funktioniert, doch in Zeiten zunehmender Rohstoffverknappung stößt es an seine Grenzen. Besonders deutlich wird das am Beispiel Kies, einem zentralen Bestandteil von Beton. Die Ressource ist nicht unbegrenzt verfügbar – ökologische Bedenken, regionale Abbauverbote und schleppende Genehmigungsprozesse verschärfen die Situation zusätzlich.
In Deutschland entstehen jährlich hunderte Millionen Tonnen an Bau- und Abbruchabfällen – ein Großteil davon landet als minderwertiger Füllstoff auf Deponien oder in einfachen Verwertungsprozessen. Damit wird ein enormes Potenzial verschenkt. Denn viele dieser Materialien könnten in hochwertiger Form erneut in den Baukreislauf zurückgeführt werden. Doch statt Versorgung steht weiterhin Entsorgung im Fokus – ein strukturelles Problem mit langfristigen Folgen für Umwelt und Bauwirtschaft.

bvse fordert stärkere Impulse für die Kreislaufwirtschaft
Die schwache Baukonjunktur belastet das Recycling von Kunststoffen und Bauabfällen. Der bvse fordert gezielte Maßnahmen: nachhaltige öffentliche Beschaffung, Förderung effizienter Recyclingverfahren und Entlastungen bei den Energiekosten. Doch reicht das aus, um die Kreislaufwirtschaft zu stärken?
Veraltete Normen blockieren innovative Materialien
Ein zentrales Hindernis für die Baustoffkreislaufwirtschaft liegt in den bestehenden Normen und technischen Regelwerken. Die DIN EN 12620 sowie die DIN 1045-2 orientieren sich nach wie vor an konventionellen Baustoffen – mit gravierenden Folgen. Zwar lässt die DIN 1045-2 theoretisch den Einsatz rezyklierter Gesteinskörnungen zu, doch sie bietet kaum praktikable Vorgaben für innovative Materialien. Zudem spielt sie in den meisten Landesbauordnungen eine untergeordnete Rolle, was zu erheblichen Unsicherheiten in der Anwendung führt.
Innovative Produkte wie Recyclingputze mit hohem Sekundärmaterialanteil werden dadurch faktisch vom Markt ausgeschlossen. Unternehmen, die nachhaltige Lösungen anbieten, sehen sich einem undurchsichtigen Genehmigungsprozess ausgesetzt, der Zeit, Geld und Planungssicherheit kostet. Die Folge: Pilotprojekte bleiben Insellösungen, statt in die industrielle Breite überführt zu werden. Solange sich hier nichts ändert, bleibt das Potenzial kreislauffähiger Baustoffe weitgehend ungenutzt.
Die Schweiz als funktionierender Modellmarkt
Während Deutschland noch mit Normen und Genehmigungsverfahren ringt, zeigt die Schweiz, wie Baustoffkreislaufwirtschaft erfolgreich umgesetzt werden kann. Dort sind Recyclingquoten von 70 bis 80 Prozent längst Realität. Besonders im Rückbau wird Beton nahezu vollständig wiederverwertet. Der Kreislauf ist nicht nur geschlossen, sondern bereits Teil der gängigen Baupraxis – mit messbaren Vorteilen für Umwelt und Wirtschaft.
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor liegt in der engen Verzahnung zwischen Politik, Normung und Baupraxis. Rezyklierte Baustoffe gelten nicht als Ausnahme, sondern sind als reguläre Alternative anerkannt. Regionale Bauordnungen – etwa in der Metropolregion Zürich – integrieren Sekundärrohstoffe aktiv. Neue gesetzliche Regelungen, die Anfang 2025 in Kraft traten, stärken diesen Weg zusätzlich. Die Schweiz demonstriert damit eindrucksvoll, wie politische Klarheit und technologische Offenheit eine echte Kreislaufwirtschaft möglich machen.
Was Deutschland jetzt gesetzlich ändern muss
Die Erkenntnisse aus der Schweiz liefern klare Hinweise darauf, was in Deutschland passieren müsste – doch bislang fehlt es an politischen und normativen Reformen. Es braucht verbindliche Zirkularitätsleitlinien im Bauordnungsrecht, die die Nutzung von Sekundärrohstoffen nicht nur ermöglichen, sondern aktiv fördern. Dazu gehört auch die Integration dieser Materialien in die relevanten Baunormen, um Rechtssicherheit und Vertrauen zu schaffen.
Ein weiterer Hebel liegt in der Digitalisierung: Ein Produktpass, der den gesamten Lebenszyklus eines Baustoffs dokumentiert, könnte Transparenz schaffen und die Bewertung nachhaltiger Produkte erleichtern. Doch derzeit verhindern starre Regulierungen und fehlende Standards den Markteintritt innovativer Materialien. Die Folge: Bauherren zweifeln an Sicherheit, Qualität und Verfügbarkeit – und greifen weiterhin auf Altbewährtes zurück. Ohne gezielte politische Impulse bleibt die Baustoffkreislaufwirtschaft in Deutschland ein Nischenthema.

Deponien in Deutschland: In 10 Jahren ist jede zweite Deponie voll
In Deutschland zeichnet sich eine kritische Engpasssituation ab: Bis zu 50% der Deponien könnten in nur zehn Jahren ihre maximale Kapazität erreichen. Diese Entwicklung fordert dringend innovative Lösungen in der Abfallwirtschaft, um den Anforderungen einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft gerecht zu werden.
Vom Entsorger zum Versorger – die Vision der Kreislaufwirtschaft
Die Umstellung von einer linearen hin zu einer zirkulären Wertschöpfungskette ist nicht nur ökologisch geboten, sondern bietet auch wirtschaftliche Chancen. Durch die Wiederverwertung von Baustoffen lassen sich knappe Ressourcen schonen, Kosten senken und neue Märkte erschließen. Aus Entsorgung wird Versorgung – ein Paradigmenwechsel, der das Bauwesen langfristig widerstandsfähiger und nachhaltiger machen kann.
Damit dieser Wandel gelingt, braucht es das Engagement aller Beteiligten: Politik, Bauindustrie, Forschung und Verbraucher. Noch befinden sich viele Recyclingansätze in der Pilotphase – doch ihr Potenzial ist enorm. Wenn die strukturellen Hürden fallen, kann aus der Vision eine industrielle Realität werden. Die Schweiz hat vorgemacht, wie es geht. Nun ist Deutschland am Zug, den Anschluss nicht endgültig zu verlieren.